Säugling mit hirnorganischer Entwicklungsstörung
Hp Uwe Baumann, März 2009
Fallgeschichte über die Intensive Begleitung einer jungen Mutter, mit ihrem 2-monate alten Sohn. Im Laufe der Behandlung stellt sich heraus, dass der kleine Leon eine sehr schwere Veränderung des Nervensystems hat und damit einhergehend mit einer massiven Sehbehinderung umgehen muss. Weitere Beeinträchtigungen z.B.: auch des Bewegungsapparates sind mehr als wahrscheinlich. Für mich steht neben der direkten Behandlung von Leon auch die psychologische Unterstützung der Mutter in dieser schwierigen Situation im Vordergrund.
Ich habe einige Nebenaspekte der Behandlungen nur angedeutet (z.B. die Verdauungsthematik) oder weggelassen um den Focus vor allem auf die Neurologischen Aspekte und die Unterstützung der Mutter zu halten.
Aug. 08 Vorstellung und 1. Sitzung der Klientin mit ihrem Sohn:
Im August `08 bittet Claudia (Namen geändert) mit ihrem 2 Monate alten Sohn Leon um einen Behandlungstermin. Ich wurde von ihrer Mutter, die bei mir die Ausbildung zur CranioSacral-Therapeutin macht, empfohlen. Sie kommt primär zu mir wegen Verdauungsproblemen und wegen seiner „nervösen“ Augen.
Schon beim ersten Termin wird deutlich, dass neben den Verdauungsproblemen Leons Augen nicht fixieren können…
Sie bewegen sich sehr schnell seitlich hin und her, bleiben manchmal in einer beliebigen Position stehen, und bewegen sich nicht synchron. Die Mutter wirkt etwas besorgt, kann die Situation aber nicht einschätzen. Schon jetzt befürchtet sie die Möglichkeit, etwas könnte „nicht stimmen“, lässt diese Befürchtung aber kaum an die Oberfläche ihres Bewusstseins dringen, zu groß ist die Angst davor, ein behindertes Kind zu haben, als dass sie dies zulassen könnte.
Es fand schon ein Termin bei einem Augenarzt statt, der sich –aufgrund des Alters von Leon, allerdings nicht abschließend geäußert hat. Leon wirkt auf mich etwas verloren. Ich kann der Mutter auch nicht mit einer guten Prognose aus ihrer Anspannung helfen, unterstütze sie aber eindringlich bei ihrer Frage ob sie weitere Fachärztliche Abklärungen einholen soll.
Sept. 08
Ich nähere mich Leon achtsam. Ich kündige jeden meiner Schritte auch verbal an, da ich vermute, dass er visuell sehr eingeschränkt ist. Ich achte darauf, dass seine Mama, die mir ihren Sohn anfangs übergeben will, mit Leon in Körperkontakt bleibt. Ich strebe an, dass Leon maximal ressourciert bleibt; der Kontakt mit seiner Mama wirkt auf mich sehr schön. Sie wirkt gefasst und versucht eine Herz-Verbindung zu ihrem Sohn aufzubauen. Ihre Irritation, aufgrund des fehlenden Augenkontakts zu Leon ist deutlich. Ich unterstütze Claudia darin, ebenfalls jeden ihrer Schritte, Annäherungen, Veränderungen, Hochheben und so weiter verbal anzukündigen- und übe das mit ihr in der Praxissituation. Leon reagiert nun deutlich gelassener auf die meisten Veränderungen. In der Zwischenzeit konnte ich mit einer Hand einen sanften Kontakt am Sacrum halten die andere Hand „schwebt” in einigem Abstand vor seinem Bauch. Nach und nach wird Claudia und auch Leon ruhiger. Es geht in dieser Phase vor allem darum, eine Vertrauensbasis aufzubauen und meine Intention ist, dass wir alle drei innerlich zur Ruhe kommen. Mit einer Atemübung für Claudia (und mich) unterstütze ich sie darin. Sie kommt dadurch mit ihrer Körperempfindung in Kontakt und bemerkt ihre starke Erschöpfung. Ich lade sie ein, sich zu ihrem Sohn auf den Behandlungstisch zu legen. Was beiden gut tut –Eine tiefe Entspannung findet statt.
Nach einer Weile kann meine zweite Hand am Kopf berühren. Leon drückt sich oft selbst die rechte Stirnbeinseite und ich vermute eine Drucksymptomatik. Als ich in die Nähe dieser Region komme, nimmt er meine Hand an diese Stelle und drückt sie regelrecht darauf.
Ich bleibe mehrere Minuten und frage innerlich, welche Geschichte dieses kleine Wesen wohl in sich trägt. Ich werde stiller und komme mehr in mein therapeutisches Neutral. Jetzt zeigt sich langsam die Dynamik des Nervensystems: es wirkt deutlich „gehalten“ und scheint seinem Drang sich in Bewegungsimpulsen auszudrücken (Motilität des ZNS) nicht nachgeben zu können.
In mir entsteht ein Gefühl von starker Beeinträchtigung und gleichzeitig ein großes Mitgefühl für Leon. Ich halte sein Nervensystem viele Minuten, und Leon kommt in eine tiefe Ruhe, auch seine Mutter ist in einen Stillpunkt gekommen. Ich habe das Gefühl Leon hat mir während diesem tiefen Kontakt mit seinen innersten Strukturen viel von seinem Wesen mitgeteilt, ich fühle mich ihm sehr nahe.
Die letzten 10 Minuten nutze ich um, die Mutter wieder ins Hier und Jetzt zu orientieren und wir sprechen noch über Möglichkeit einer diagnostischen Abklärung per MRT im Kinderspital. Ich spreche auch die Familiensituation an, und frage ob sie sich vorstellen könne, dass sie mit ihrem Mann verschiedene Befundmöglichkeiten durchsprechen könnte.
Sie bleibt daraufhin schweigsam und die Belastung, die auf ihr lastet ist ihr anzusehen.
Okt. 08
Nach Claudias Erzählungen trinkt Leon sehr wenig, die Augen werden beim trinken unruhiger, er scheint fast panikartige Gefühle zu haben, als ob er nicht genug zu trinken (Mutterbrust) bekommt. Leon wird dann immer unruhiger mit starken fuchtelnden Bewegungen der Arme, und steigert sich in eine regelrechte Panikattacke hinein.
Die Mutter hat sich in den letzten Tagen den 3. Halswirbel verrenkt und Schmerzen und Verspannungen im Schulter-Nacken-Bereich.
Ich lagere Claudia auf dem Behandlungstisch in Seitenlage, so dass sie Schmerzfrei liegen kann und ihre HWS optimal unterstützt und positioniert ist. Sie kann Leon anlegen und ich unterstütze Claudia mit der gewohnten Atemmeditation mit ihrer Körperwahrnehmung in Kontakt zu kommen und ihr Herz wahrzunehmen. Ich verbinde diese Sequenz mit einer indianischen Imaginationsübung fürs Stillen. Wodurch Claudia gut bei sich bleiben kann und nicht mit den Ängsten von Leon in Resonanz gehen muss. Ich unterstütze die Verbindung von ihrem emotionalen Herzen und Leons emotionalem Herz miteinander, nach wenigen Minuten nimmt sein Stresslevel deutlich ab und sein autonomes Nervensystem beginnt sich wieder zu regulieren. Er wird ruhiger und kann nun ohne Panik trinken. Ich weise Claudia darauf hin, wie sie in dieser Sequenz bei sich bleiben konnte und verankere dieses Erfolgserlebnis mit einer NLP-Intervention bei ihr als Körpergefühl.
Claudia wird zusehends nervöser wegen der bevorstehenden Magnet-Resonanz-Untersuchung. Ihr wird mehr und mehr bewusst, dass Leon dazu ruhiggestellt werden muss. Leon schreit zuhause vermehrt. Seine Mutter ist am Limit und hat kaum Energie.
Beide dürfen sich hinlegen, ich bleibe in empathischer rezeptiver Haltung, visualisiere meine Mitte und stärke mein therapeutisches Neutral. Ich drücke Claudia gegenüber Verständnis aus, und unterstütze sie im Annehmen ihrer Unsicherheit, ihrer Angst und ihrer Erschöpfung.
Bald fängt sie an zu weinen und ich bestärke diese emotionale Entladung verbal durch sanften Kontakt am Rücken in der Herzgegend. Leon wird sehr ruhig. Ich weise die Mutter darauf hin und sie versteht, wie sehr Leon darauf angewiesen ist, dass sie authentisch ihre Gefühle zeigt, und auch „schwach“ sein darf. Ich arbeite nach einer Weile, als die Mutter ruhiger wurde, weiter mit Leons Nervensystem, was er sichtlich geniest. Wieder zeigt sich diese „Gestalt“ des Gehaltenseins, ich gebe dem Raum und Leon fasst mehr und mehr Vertrauen und schmiegt sich geradezu in meine Hand. Nach einem langen Stillpunkt beginnt sich das Nervensystem an seiner vorderen Anhaftung zu lösen und es wird Ansatzweise ein CranioSacraler Rhythmus des Nervensystems spürbar, immer noch sehr verhalten und limitiert in seiner Amplitude. Die Mutter die ebenfalls im Stillpunkt war, kommt deutlich ressourciert wieder im Hier und Jetzt an. Ich unterstütze sie im folgenden Gespräch, in die Richtung, dass das MRT wichtig ist, um die notwendigen Schritte für Leons Therapie einschätzen zu können. Ihre Befürchtungen bezüglich „Narkose“ kann ich insoweit mindern, dass es sich lediglich um eine leichte Sedierung handelt. Meinen Vorschlag diesbezüglich ein Gespräch mit dem Arzt zu vereinbaren nimmt sie dankbar an. Da Leons Muskeltonus nicht altersentsprechend ausgeprägt ist, und vor allem auch die Kopfkontrolle deutlich „hintendran“ ist, schlage ich vor zusätzlich vor, eine mir bekannte Physiotherapeutin mit dem Spezialgebiet Kinesthetik aufzusuchen. Die Physiotherapeutin hat hinreichend Erfahrung mit behinderten Kindern und Babys.
Da sie bereits wöchentlich bei einer Therapeutin ist, hat sie Bedenken, dass es für Leon ein zuviel an Therapien wird. Ich gebe ihr Recht bei ihren Bedenken und drücke ihr mein Verständnis aus. Ich erkläre ihr aber, dass es für bestimmte Entwicklungen ein ideales Zeitfenster gibt, und dass es sinnvoll ist, in diesem Zeitfenster bestimmte Impulse zu fördern. Claudia versteht die Relevanz und freut sich, dass ich ihr direkt die kompetente Anlaufstelle nennen kann.
Nov. 08
Claudia kommt deutlich ressourcierter in meine Praxis. Sie hatte bereits einen Termin bei der Therapeutin und diese hat ihr bestätigt, dass der Muskeltonus deutlich zu wenig ausgeprägt ist. Sie sind übereingekommen, dass Leon dort etwa 14-tägig behandelt wird. Ideal ist, dass Claudia dabei auch darin geschult wird, wie sie Leon im Alltag unterstützen kann. Sie blickt beinahe zuversichtlich auf die bevorstehende MRT-Untersuchung, Leon ging es die letzten 14 Tage besser -mit weniger Schreien. Und es gab sehr berührende Momente mit seinen Eltern.
Beide liegen wieder auf der Behandlungsbank. Ruhe kehrt ein, während ich mit Leons Nervensystem arbeite sprechen wir über die Möglichkeit, dass sich in der Untersuchung auch eine bleibende Behinderung herausstellen kann; Mir ist sehr bewusst, dass dies für Claudia ein sehr delikater Moment sein wird. Ich bleibe ganz bei meinem Mitgefühl für Leon, halte den Rücken von Claudia und von Leon jeweils in der Herzgegend. Die Verbindung zwischen beiden wird immer deutlicher und für Claudia regelrecht greifbar. Sie spricht jetzt erstmals darüber, dass es auch für sie und ihren Mann wichtig ist, zu wissen was auf sie zukommt, und dass sie beide sich mit verschiedenen Szenarien auseinandergesetzt haben. Ich bin sehr berührt von Claudias tiefem Einverständnis mit der Situation.
Weiterführende Arbeit am Nervensystem: Leons Nervensystem beginnt sich im Bereich vom Hirnstamm zu befreien, und die Gesamtbewegung wird deutlicher Ich erkläre beiden, dass sich Hirnnervenkerne die für die Motorik der Augen zuständig sind hier befinden.
Dez. 08
Diese Sitzung widme ich der Behandlung der Sehbahn, die ich visualisiere und den angrenzenden Strukturen Raum gebe sich zu harmonisieren. Ich dirigiere Liquor und die innewohnende Potency in diese Strukturen und habe den Eindruck eines sich Füllens des Sehnervs, des optischen Rindenfeldes und des Hinterhauptbeins. Leon lässt mir etwa 20 Minuten Zeit mich darin zu vertiefen.
Leon beginnt besser zu fixieren, die Augen schielen jedoch leicht und ich kann nicht abzuschätzen mit welchem Auge eher möglicherweise (?) mehr sehen kann.
Die Mutter ist sehr beeindruckt von der Entwicklung. Ich versuche ihren Optimismus zu relativieren: Das Gefühl, das sein Nervensystem bei mir hinterlassen stimmt mich nicht sehr zuversichtlich. Im vorderen Bereich des Craniums hat sich zwar viel gelöst, auch das Stirnbein selbst und angrenzende Knochen wirken freier. Leon hält sich nur noch sehr selten die besagte Stelle am Stirnbein, jedoch der hintere Bereich macht mir mehr Sorgen: Das Hinterhauptsbein wirkt sehr rigide und die Nackenmuskulatur ist nicht gut ausgebildet. Nach wie vor macht mir auch sein Muskeltonus Sorgen. Vor allem die gesamte anteriore Muskelkette ist viel zu wenig ausgebildet und die Beine wirken zu schlaff. Gelegentlich verfällt Leon in eine ophistotone Körperhaltung die an einen Krampf erinnert.
Ich unterstütze ihn heute -da sich dieses Muster jetzt das erste Mal in der Praxissituation zeigt, in den Ophistotonus hinein, wobei er sich extrem nach hinten überstreckt. Ich helfe der Mutter- die beginnt aufgeregt zu werden, mit der gewohnten Atemsequenz bei sich und in ihrer Ressource zu bleiben. Ich rede beruhigend zu Leon, dass er sich ganz viel Zeit lassen kann und diese pränatale Sequenz jetzt noch mal ganz gut spüren darf. Er atmet erst heftig, kommt dann wieder zur Ruhe und liegt bald – nach der Anstrengung erschöpft in den Armen seiner Mama die, wie sich im Gespräch herausstellt, ebenfalls an die Zeit der Schwangerschaft erinnert wurde und tief berührt ist. Es fand auf einer nonverbalen Ebene ein tiefes Verbundenheitsgefühl zu Leon statt.
Jan. 08
Leon schläft und wir nutzen die Gelegenheit für eine Sitzung für Claudia. Ich halte einen weiten Raum und finde in meine Stille.
Ich führe sie in eine Trance und helfe ihr, ihren Ressourcenraum zu finden und im Körper zu verankern. Sie nimmt den Impuls auf und ressourciert sich bald in einem tiefen langandauernden Stillpunkt. Endlich kann sie ihrer Erschöpfung und Bedürftigkeit Raum geben. Sie wirkt beim Gehen sehr stabil. Ich bin froh, dass Leon uns diese Zeit gegeben hat, zumal der MRT- Termin bevorsteht. Ich gebe ihr den Rat, sich in einer Apotheke Bachblüten-Notfalltropfen in Kombination mit Crab Apple als Kindermischung (alkoholfrei) zu besorgen und Leon vor und nach dem MRT bei Bedarf stündlich 2-3 Tropfen einnehmen zu lassen und zusätzlich die Fontanelle zu beträufeln. Auch sie selbst solle davon nach Bedarf nehmen.
Arbeit an der Wirbelsäule und dem Lumbalmark, es wirkt sehr träge und mit Biodynamischer CS- Herangehensweise kann ich das Nervensystem schrittweise mobilisieren, es wirkt daraufhin schon etwas dynamischer.
Feb. 08
Der radiologische Befund hat meine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Leons Kleinhirn ist deutlich vergrößert und er leidet unter einer Hirnorganischen Entwicklungsstörung.
Seine Mutter wirkt trotz dieser Nachricht, die sie vor 2 Tagen erhalten hat, beinahe erleichtert über die Klarheit, die der Befund mit sich bringt. Sie weiß jetzt, dass es kein Versäumnis ihrerseits gibt, was die therapeutischen Interventionen angeht. Sondern dass die Therapien die die beiden machen, dem Zustand Leons entsprechen. Im Gespräch und mit Hilfe der Wahrnehmungsübungen öffnet sich für sie eine neue Tür und sie bemerkt, dass es jetzt viel einfacher für sie ist, Leon so zu akzeptieren wie er ist. Ein Berg von Erwartungen fällt von ihr ab. Ich bin tief berührt davon, wie Claudia diese Situation trägt und zeige ihr meine Anerkennung. Leon lässt mich nach langsamer Annäherung wieder an seinem Nervensystem arbeiten. Die radiologischen Ergebnisse helfen mir, die Strukturen, insbesondere die Hirnhaut besser zu visualisieren. Durch die Kleinhirnvergrößerung projiziert sich das Kleinhirnzelt höher als üblich. Ich kann mit diesem Wissen mit den Strukturen jetzt besser in Kontakt kommen, die Spannungsmuster widerspiegeln und in ein Spannungsgleichgewicht führen. Claudia will mir noch eine Kopie der MRT-CD mitbringen.
März 08
Im Gespräch mit Claudia zeigt sich eine gute Stabilisierung ihrer Verfassung. Sie ist weder mit sich noch mit Leon übermäßig ehrgeizig, sondern kann die Situation liebevoll und gestärkt annehmen, wir vereinbaren weiterhin etwa monatliche Behandlung/ Begleitung, bei Bedarf und in akuten Situationen auch häufiger. Momentan liegt der Focus vor allem darauf, seinen Muskeltonus in der Kinesthetik zu unterstützen.
Meine Aufgabe sehe ich in der psychoemotionalen Begleitung von Claudia und der Unterstützung von Leon, vor allem was seine Kompensationsmöglichkeit betrifft, mit einer so schweren Einschränkung umzugehen. Ich unterstütze den Bewegungsausdruck seiner Schädelknochen, der Hirnhäute und des Nervensystems.
Die Begleitung von Claudia und Leon hat mich sehr berührt, insbesondere Claudias Kraft und Liebe zu Leon, die es Möglich machte, die Situation so anzunehmen wie sie ist.